Keynote Hochschulprof. Dr. Marion Döll
Messen und Fördern von Sprachkompetenz im Kontext von Migration und Mehrsprachigkeit.(Sprach-)Bildungsforschung im Spannungsfeld zwischen Migrationspädagogik und Bildungspolitik – oder: Stellen wir eigentlich die richtigen Fragen?
Sprachliche Bildung ist in aller Munde: „Durchgängige Sprachbildung“ hat sich in den vergangenen Jahren zum Leitbegriff entwickelt, die Vermittlung von „Bildungssprache“ gilt als oberstes Gebot. Es scheint, als sei das Ende der Bildungsbenachteiligung zwei- und mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler in greifbare Nähe gerückt, als sei sie durch geeignete didaktisch-methodische Maßnahmen überwindbar.
Die wissenschaftlichen, bildungspolitischen und -administrativen Diskurse zu Sprachbildung und Sprachkompetenzdiagnostik sollen dieses Enthusiasmus ungeachtet im Rahmen des Vortrags einer kritischen Analyse unterzogen werden. Dazu werden die „Durchgängige Sprachbildung“ sowie aktuelle bildungspolitisch forcierte Konzepte zum Umgang mit migrationsbedingter Zwei- und Mehrsprachigkeit zunächst anhand migrationswissenschaftlicher Kriterien im Spektrum der Modelle Sprachlicher Bildung verortet und anschließend die Auseinandersetzung mit Sprachbildung und Sprachkompetenzdiagnose in Bildungsforschung, -politik und -administration aus migrationswissenschaftlicher sowie migrationspädagogischer Perspektive in den Blick genommen. Die im Zuge dessen deutlich werdende assimilative Orientierung wird abschließend schul- und spracherwerbstheoretisch reflektiert, woraus wiederum Schlussfolgerungen für die sprachbildungs- und sprachdiagnosebezogene Forschung gezogen werden können.
Vortragende:
Hochschulprofessorin Dr. Marion DÖLL studierte Pädagogik, Sozialpsychologie und Sonderpädagogik an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover und war anschließend als wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitäten Hamburg, Paderborn und Wien tätig. Seit 2014 ist sie Hochschulprofessorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt sprachliche Bildung und migrationsbedingte Mehrsprachigkeit in der PädagogInnenbildung im Fachbereich Bildungswissenschaften der PH Oberösterreich. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Mehrsprachigkeit, Sprachdiagnose, Migration und Bildung sowie PädagogInnenbildung in der Migrationsgesellschaft.
Keynote Prof. Dr. Eckhard Klieme
Wie vermessen wir Unterricht – und was bedeutet das für die Bildungspraxis?
Die empirische Bildungsforschung ist in den vergangenen Jahren zur zentralen Referenz geworden, wann immer es in öffentlichen, politischen und administrativen Kontexten um Fragen der Unterrichtsqualität geht, zunehmend auch in professionellen Diskursen. Die Publikationen, Beobachtungs- und Befragungsinstrumente von Andreas Helmke, das Modell der drei „Basisdimensionen guten Unterrichts“ (Klassenführung, Konstruktive Unterstützung und Kognitive Aktivierung) und einschlägige Befunde aus großen Schulstudien haben nicht nur die Forschung angeregt, sondern gleichsam auch einen Standard für Schulinspektion, Evaluation und Lehrerbildung gesetzt. Bildungsforscher*innen beraten Landesinstitute oder auch Schulen bei Entwicklung und Einsatz von Messverfahren, die in vielerlei Kontexten für Selbst- und Fremdevaluierung genutzt werden, und trainieren Schulinspektoren für die Unterrichtsbeobachtung. Sogar im jüngsten Bildungsbericht für Deutschland (2018) nimmt erstmals ein Indikator (D6) Bezug auf Prozessmerkmale des Unterrichts.
Im ersten Teil des Vortrags werden Verfahren zur Erfassung von Unterrichtsqualität aus der aktuellen Forschung vorgestellt und methodische Aspekte wie Perspektiven- und Methoden-Spezifität, Reliabilität und Generalisierbarkeit diskutiert. Im zweiten Teil werden Beispiele zur Nutzung solcher Instrumente außerhalb der Forschung vorgestellt, auch aus dem angelsächsischen Raum, denn in den USA scheint das „Assessment“ von „Teacher quality“, auch durch Unterrichtsbeobachtung, zur vielleicht wichtigsten Governance-Strategie geworden zu sein.
Ziel des Beitrags ist es, zur Diskussion der folgenden Fragen anzuregen: Sind unsere Methoden objektiv, reliabel, fair und bei einer Verwendung im Schulalltag „robust“ genug, um „Evidenz“ über guten Unterricht zu produzieren und praktische Schlussfolgerungen zu ermöglichen? Decken unsere Qualitätskonzepte ausreichend breit die Facetten des pädagogischen Diskurses in der Wissenschaft und in der Profession ab? Machen unsere Indikatoren „Sinn“ für Lehrkräfte und andere Akteure? Wissen wir, wie man gutes Feedback zum Unterricht gibt und dies für Unterrichtsentwicklung auf verschiedenen Ebenen des Bildungssystems nutzt? Welche nicht intendierten Wirkungen hat möglicherweise die Verwendung unserer Messinstrumente in administrativen Kontexten?
Vortragender:
Prof. Dr. Dr. h.c. Eckhard Klieme gehört seit 2001 dem Vorstand des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation an, leitet die Abteilung „Bildungsqualität und Evaluation“ und bekleidet eine Professur für Empirische Bildungsforschung an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er ist u.a. Mitglied im Herausgeberkollegium der Zeitschrift für Pädagogik und im Wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift für Bildungsforschung. Sein akademischer Werdegang fand in der Mathematik (Diplom 1978), der Psychologie (Promotion 1989) und der Erziehungswissenschaft (Habilitation 2000) statt. Von 1983 bis 1997 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Test- und Begabungsforschung der Studienstiftung in Bonn, 1998 bis 2001 war er am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin tätig. Er war bzw. ist verantwortlich für mehrere Projekte in der videobasierten Unterrichtsforschung (derzeit die TALIS-Video Studie), andererseits für große Schulleistungsstudien wie DESI oder die Entwicklung internationaler Befragungsinstrumente für PISA 2012, 2015 und 2018. Darüber hinaus hat er sich vielfach in der Politik- und Praxisberatung engagiert, u.a. 1990 bis 1997 bei der Begleitung von Bildungsreformen in Luxemburg und 2003 durch eine Expertise zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards für Deutschland. 2010 wurde er mit dem Preis des Stifterverbands „Wissenschaft macht Gesellschaft“ ausgezeichnet, 2014 mit dem Forschungspreis der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft.
Keynote Univ.-Prof. Dr. Peter Schlögl
Bildungsforschung: Erkenntnispolitische Strategien jenseits von Zahlenknechtschaft und politischer Psychologie
Will und soll die Erarbeitung von wissenschaftlich gesichertem Wissen zu Bildungswirklichkeiten sich nicht auf eine kulturelle Form beschränken (Musolff 1997) und fragt nach ihrer sozialen Wirksamkeit, erscheinen unterschiedliche erkenntnispolitische Strategien möglich. Dass Pädagogik, Erziehungswissenschaft oder Bildungsforschung nie eine Avantgarde sozialer Entwicklungen dargestellt haben, teilen sie mit anderen (Sozial-)Wissenschaften. Denn viel mehr als im naturwissenschaftlichen Denken braucht es im menschlichen Miteinander anhaltend eine Versöhnung oder einen Abgleich zwischen dem ‚Reich der Fakten‘ mit dem ‚Raum der Bedeutungen‘ (Detel 2006). Dabei kann der Zusammenhang von (Praxis-)Wissen und Wissenschaft auf der einen Seite und Wissenschaft und Politik (oder Gesellschaft) auf der anderen Seite aber nicht auf ein schicksalhaftes Verhältnis von Wahrheit und Macht reduziert werden.
Österreich, empirisch belegt, weist besonders stark ausgeprägte Ignoranz und hohes Misstrauen gegenüber Wissenschaft auf und dies bildet keine guten Voraussetzungen für wissenschaftsinduzierte und datengestützte Weiterentwicklung von im wesentlichen tradierter Bildungspraxis und machtpolitischer Systemsteuerung. Insofern wird allein verbesserte ‚Wissenschaftskommunikation‘ hier nicht zum gewünschten Ziel führen.
Zugleich wird in einer machtbewussten, üblich gewordenen Gutachtenpolitik (Ricken 2011), die bereits fixierte und nur begrenzt öffentlich deklarierte Interessen durch stützende, legitimierende, vermeintlich neutrale Gutachten manifestiert (Weingart 2001) und die Rolle von ‚Zahlenknechten und -mägden‘ der Politik über weite Strecken die einzig finanziell dotierte Rolle von Forschung im System. Zugleich wird die methodologische Gewissenhaftigkeit von Forscherinnen und Forschern über allfällige Limitationen von wissenschaftlich gesichertem Wissen zuweilen als Mangel an wissenschaftlicher Gewissheit hingestellt und damit Daten und Befunde zusätzlich politischer Agitation ausgesetzt.
Es lassen sich im Zusammenwirken von Praxis, Politik und Wissenschaft aber auch diffizile, zuweilen subversive Strategien der Forschung erkennen, in gewisser Weise einer ‚politische Psychologie‘, ‚der‘ Politik oder ‚der‘ Praxis zu erklären zu versuchen, warum es doch auch für sie selbst besser wäre, würde man dies oder jenes tun.
Einen gänzlich anderen Weg schlägt etwa Latour (2007) vor, indem er dazu aufruft, einen argumentativen Schwenk von „matters of fact“ zu „matters of concern“ zu vollziehen, um damit in demokratischen Ausverhandlungsprozessen wieder gestaltungswirksamer zu werden, nicht als Wissenschaft selbst zum Gegenstand der Kritik zu werden und als Forscherinnen und Forscher eine relevante Position in der Ausverhandlung von gesellschaftlichen Zielen und Wegen dort hin zu erringen.
Detel, Wolfgang (2006). Wissenskultur bei Platon und Aristoteles. In: Rapp C., Wagner T. (Hrsg.) Wissen und Bildung in der antiken Philosophie (S. 305–321). J.B. Metzler, Stuttgart
Latour, Bruno (2004). Why has critique run out of steam? From matters of fact to matters of concern. Critical Inquiry, 30,S. 225–248.
Musolff, Hans-Ulrich (1997). Erziehung und Bildung in der Renaissance: Von Vergerio bis Montaigne (Beitrage zur historischen Bildungsforschung Bd. 20). Köln-Weimar-Wien: Böhlau.
Ricken, Norbert (2011). Erkenntnispolitik und die Konstruktion pädagogischer Wirklichkeiten. Eine Einführung. In: Reichenbach R., Ricken N & Koller H.-Chr. (Hrsg.) Erkenntnispolitik und die Konstruktion pädagogischer Wirklichkeiten (S. 9–26). F. Schöningh: Paderborn.
Weingart, Peter (2001). Wissenschaftliche Expertise und politische Entscheidung. In: ders.: Die Stunde der Wahrheit. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft (S. 127–170). Weilerswist: Velbrück.
Vortragender:
Univ.-Prof. Mag. Dr. Peter Schlögl, geb. 1967, Studium der Philosophie an der Universität Wien, Professor für Erwachsenenbildung und Weiterbildung am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Wissenschaftlicher Leiter des Österreichischen Instituts für Berufsbildungsforschung in Wien. Arbeits-/Forschungsschwerpunkte: Bildungstheorie und-philosophie; Kompetenz- und Lernergebnisorientierung; Erwachsenen- und Berufsbildungspolitiken; Beratung zu Bildung und Beruf.
Podiumsdiskussion
Thema: „Vermessen? Zum Verhältnis von Bildungsforschung, Bildungspolitik und Bildungspraxis"
Teilnehmer/innen:
Dr. Martina Diedrich ist Diplom-Psychologin und promovierte in Erziehungswissenschaft bei Prof. Dr. Eckhard Klieme. 2002 bis 2007 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF), Arbeitseinheit Bildungsqualität und Evaluation. Seit 2009 arbeitet sie in der Schulinspektion in Hamburg und leitet nun als Direktorin das dortige Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ) in Hamburg.
Florian H. Müller, a.Univ.-Prof. Dr., studierte Erziehungswissenschaft an der Ludwigs-Maximilians-Universität in München. Seit 2006 ist er am Institut für Unterrichts- und Schulentwicklung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Motivationspsychologie, Interessenforschung, Lehrerbildungsforschung sowie die Analyse von Lehr-Lernumwelten, insbesondere in Schule und Hochschule.
Seit 2016 ist er Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für Forschung und Entwicklung im Bildungswesen (ÖFEB).
VD Gabriele HAJBI, BEd. Lehramt für Sonderschule und Volksschule, seit 2009 Leiterin der Volksschule Altheim und bis 2018 Leiterin des SPZs bzw. ZIS Altheim.
Zusatzausbildungen: Ausländerpädagogik, Betreuungslehrer/in, Heilstätten- und Körperbehindertenpädagogik. Tätigkeiten in unterschiedlichen integrativen Bereichen des Schulsystems (Diagnostik, Stützunterricht, Förderlehrerin, Integrationslehrerin). Fortbildungsschwerpunkte in den letzten Jahren zur Rückmeldemoderatorin (BIST), Dyskalkulie und Legasthenie, Konfliktregelung
© BKA/Andy Wenzel
Martin Netzer ist provisorisch mit der Leitung der Präsidialsektion des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung betraut. Er arbeitete als Trainer und Programmleiter in der Erwachsenenbildung, bevor er im Jahr 2000 in das Bildungsministerium wechselte. Dort betreute er unter anderem den Konsultationsprozess zum Memorandum über lebenslanges Lernen der Europäischen Kommission. Ab 2002 war er Kabinettsmitarbeiter von Bildungsministerin Elisabeth Gehrer, ab 2005 Leiter des Kabinetts. Als Direktor des Bundesinstituts für Innovation und Qualitätsentwicklung des österreichischen Schulwesens war er maßgeblich an der Implementierung der zentralen Abschlussprüfungen in Österreich beteiligt. Ab 2015 war er Projektleiter für die österreichische Bildungsreform.
Dr. Martin Heinrich ist Univ.-Prof. für Schulentwicklung und Schulforschung sowie Leiter der Wissenschaftlichen Einrichtung der Versuchsschule Oberstufen-Kolleg der Universität Bielefeld. Er ist Vorsitzender der Kommission „Bildungsorganisation, Bildungsplanung und Bildungsrecht" (KBBB) der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), Gründungsmitglied der internationalen „Arbeitsgruppe School-Governance“ (ASG) und einer der Koordinatoren des "Netzwerks für empiriegestützte Schulentwicklung" (EMSE-Netzwerk).
Moderation:
© Grill
Dr.in Christine Haiden, Jusstudium in Linz, ist seit 1993 Chefredakteurin der Welt der Frau. Zusätzliche Aufgaben übernahm sie als Moderatorin und Autorin mehrerer Bücher („Gartenmenschen“, „Maximilian Aichern – Bischof mit den Menschen“ oder „Vielleicht bin ich ja ein Wunder. Gespräche mit Hundertjährigen“). Sie ist Mitbegründerin des Frauennetzwerkes im OÖ. Presseclub und seit 2007 Präsidentin des OÖ. Presseclubs. Seit Herbst 2008 außerdem Kolumnistin der OÖN „Haiden am Donnerstag“.
Mit freundlicher Untersützung: