Im Fokus ihrer Betrachtungen steht weniger der Narzissmus in seiner Reinform, sondern vielmehr widmet sie sich den „Nistplätzen“ bzw. den Bedingungen für die Entwicklung einer Erkrankung, die hohe gesellschaftliche Relevanz hat und gleichzeitig im pädagogischen Diskurs relativ wenig Aufmerksamkeit bekommt.
Der Psychiater Reinhard Haller nennt fünf Verhaltensweisen, die er einem narzisstischen Menschen zuschreibt: Egozentrik, Eigensucht, Empfindlichkeit, Empathiemangel und Entwertung (anderer). Es ist hinlänglich bekannt, dass narzisstische Menschen mit diesen Eigenschaften häufig die Karriereleiter hoch hinaufklettern und dafür bewundert und beneidet werden. Im Allgemeinen leidet darunter die Teamfähigkeit, die Fähigkeit, innige und dauerhafte Beziehungen einzugehen und mit Kritik konstruktiv umzugehen. Der innere Schmerz, den ein Narzisst durch Selbstüberhöhung und Abwertung anderer abzuwehren versucht, führt zu einem verzerrten Selbstbild, was wiederum zu einem großen Defizit im Zusammenleben mit anderen Menschen führt. Der Narzisst leidet unter dem drohenden Schmerz, großer Leere und dem Mangel an „echten“ Beziehungen. Sein Umfeld leidet unter den Abwertungen, dem Mangel an Einfühlung, unter gemeinen Angriffen, Intrigen und ähnlichem. Aufgrund des großen Leidens ist es von höchster Relevanz, sich in der Auseinandersetzung mit Pädagogik auch mit den Entwicklungsbedingungen von Narzissmus sowie der möglichen Prävention zu beschäftigen.
Helene Drexler begegnete in ihrer psychotherapeutischen Praxis Eltern, die vermehrt Sorgen in Bezug auf ihre Kinder äußerten:
- Ihre Kinder verweigern den Besuch der Schule.
- Die Kinder/Jugendlichen kommen häufig in ein „Gerangel“ mit Gleichaltrigen.
- Junge Erwachsene finden auch nach langem Suchen keinen Job, der ihnen entspricht.
- Sie finden keinen Partner, weil die Frau bzw. der Mann nicht gut genug scheint.
- Etc.
Sie merkt an, dass es in den meisten Fällen Eltern waren, die sich sehr um ihre Kinder bemühten. Dies veranlasste Helene Drexler, genauer hinzusehen und das Phänomen aus existenzanalytischer Sicht zu beleuchten.
Im ersten Teil ihres Buches gibt sie den Leser*innen ein bissig-ironisches Rezept für eine garantierte Entwicklung einer narzisstischen Persönlichkeit beim Kind. Sie beschreibt folgende Zutaten: Bedeutsamkeit, Grenzenlosigkeit, Mächtigkeit, Überlegenheit, selektive Wahrnehmung und „eine kleine Prise Zweifel“. Jede der sechs Zutaten wird mit Fallbeispielen angereichert. Besonders interessant ist die letzte Zutat, die - wie ein zündender Funke - den Narzissmus erst entfacht. Erst der (manchmal leise) Zweifel an der eigenen Großartigkeit ermöglicht die pathologische Entwicklung. Wenn sich die Vermutung „Es stimmt etwas nicht mit mir“ bei gleichzeitiger Betonung der eigenen Großartigkeit einnistet, besteht die Möglichkeit zur Narzissmusausprägung. Dieser Abschnitt des Buches stellt mit großer Wahrscheinlichkeit die Kritikfähigkeit der Leser*innen auf die Probe, da die humorvoll-ironische Tonart engagierten Eltern möglicherweise auch nahegeht. Genau das ist allerdings ein Verweis auf die Brisanz des Themas sowie die Gefahr der Polarisierung, die dem Thema innewohnt. Ein Weiterlesen ist dringend angeraten!
Im zweiten Teil wird die narzisstische Persönlichkeit genauer beleuchtet. Die Leser*innen erfahren, wie sie sich zeigt und welche Verhaltensweisen dafür typisch sind. In existenzanalytischer Tradition beschreibt Helene Drexler, wie sich die Seele durch Copingreaktionen im Narzissmus vor Selbst(wert)verlust schützt. Ebenso legt sie dar, wie ein narzisstischer Mensch, der nach außen hin strahlt, im Inneren leidet, welchem Schmerz er zu entgehen versucht.
Im dritten (und für die Pädagogik sehr relevanten) Teil geht es um „Narzissmus-Prophylaxe“. Hier erhalten Erziehende Informationen zur existenzanalytischen Sicht auf die Selbstwertbildung: Was braucht ein Mensch, um aufgrund einer gesunden Beziehung zu sich selbst einer narzisstischen Persönlichkeitsentwicklung zu entgehen? Helene Drexler geht auf folgende Kernelemente der selbstwertfördernden Erziehung ein:
- Achtung (Gesehen-Werden), Respekt
- Grenzen
- Ernstnehmen/Gerechtwerden
- Wertschätzung
Das Hilfreiche an ihren Ausführungen ist vor allem die genaue Betrachtung der einzelnen Elemente: Etwa können wohlgemeinte Freiräume, die dem Kind übermäßig gegeben werden, zu einer Grenzenlosigkeit führen, die einer gesunden Selbstwertentwicklung im Wege stehen. Hier sind die Erziehenden gefordert, ihre eigene Haltung zu reflektieren bzw. eigene persönliche Defizite ins Auge zu fassen und zu bearbeiten. Helene Drexler komprimiert ihre Überlegungen in “Dos“, „Don’ts“ und „Fragen zur Reflexion“ jeweils zu den oben genannten Elementen.
Insgesamt ist „Der große Erziehungsirrtum“ ein äußerst lesenswertes Buch für alle Menschen, die am Menschen interessiert sind. Es empfiehlt sich, das Buch zur Gänze zu lesen, und es nicht nach dem ersten Großkapitel wegzulegen. Der bissig ironische Stil des ersten Teils hat großes Potential zur Polarisierung und findet sicherlich nicht nur positiven Anklang bei den Leser*innen. Dieser „Stachel im Fleisch“ rüttelt wach und führt vor Augen, dass es sich nicht um „Wohlfühllektüre“ handelt, sondern um ein Buch, das einen tabuisierten Bereich mit aller Deutlichkeit anspricht: Wohlmeinende und fürsorglich eingestellte Erziehende können unter Umständen dennoch eine pathologische (narzisstische) Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen fördern.
Die Schlussfolgerung daraus ist, dass es vor allem im pädagogischen Kontext überaus bedeutsam ist, genau hinzusehen, bevor kluge Überlegungen angestellt und Lösungen gesucht werden. Aus Sicht der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Pädagog*innen ist es notwendig, dass Erziehende dabei unterstützt werden, eine phänomenologische Haltung einzunehmen. Die phänomenologische Haltung ist eine Haltung der Offenheit und Achtsamkeit, die den Blick auf das Wesentliche ermöglicht. Dafür ist Selbsterfahrung erforderlich, da eigene Erfahrungen, Vorwissen, Vorurteile, etc. bewusst in den Hintergrund gestellt werden, um ganzheitlich für sich und andere da sein zu können.
An der PH OÖ finden Sie Angebote aus dem Bereich der Existenziellen Pädagogik sowie den Lehrgang „Achtsame Pädagogik“, die den Fokus auf Phänomenologie in der Pädagogik setzen.
Quellen:
Drexler H, Der große Erziehungsirrtum – Wie wir unsere Kinder zu Narzissten machen. Wien: Delta X Verlag, 2022.
Haller R, Die Narzissmusfalle: Anleitung zur Menschen- und Selbstkenntnis. Salzburg: Ecowin Verlag, 2013.
Dominik Buchmeier (PH OÖ)