In mehr als der Hälfte der deutschen Familien lebt heute nur ein Kind. Eltern von Einzelkindern sind oft besorgt, weil sie keine Geschwister haben. Sie hören häufig, dass bestimmte Verhaltensweisen mit dem Einzelkindstatus in Verbindung gebracht werden, was zu der Vermutung führt, dass Stereotype wie weniger sozial, verwöhnt, psychisch labil oder narzisstisch einen wahren Kern haben könnten.
Was ist dran an den verbreiteten Vorurteilen?
Zahlreiche Studien haben untersucht, wie das Aufwachsen als Einzelkind mit Verhalten, psychischer Gesundheit und Persönlichkeitsmerkmalen zusammenhängt - oft mit überraschenden Ergebnissen, die die Sorgen der Eltern mindern können.
Einzelkinder sind verwöhnt – zumindest teilweise
Es stimmt zwar, dass Einzelkinder verwöhnt werden können, aber das liegt vor allem daran, dass sie mehr Aufmerksamkeit und Entscheidungsbefugnisse von ihren Eltern erhalten. Laut Toni Falbo, Professorin an der Universität von Texas, neigen Eltern dazu, ihr einziges Kind häufiger zu konsultieren als Eltern mit mehreren Kindern. Dies führt zu einer stärkeren Eltern-Kind-Bindung, und Einzelkinder haben oft das Gefühl, dass ihre Meinung geschätzt wird. Darüber hinaus zeigen Studien, dass Einzelkinder in der Regel über mehr finanzielle Ressourcen verfügen, da Eltern deutlich mehr in ihr einziges Kind investieren können als in Haushalte mit mehreren Kindern.
Trotz dieser Vorteile sind nicht alle Aspekte des Einzelkindseins positiv. Viele Einzelkinder leben mit einem alleinerziehenden Elternteil zusammen, was ein höheres Armutsrisiko mit sich bringt. Daten von 2022 zeigen, dass etwa 9 % der Einzelkinder armutsgefährdet sind. Einzelkinder erhalten also mehr Aufmerksamkeit und Ressourcen, aber nicht unbedingt mehr materiellen Wohlstand.
Einzelkinder sind nicht narzisstischer und keine Einzelgänger
Das Stereotyp, dass Einzelkinder narzisstisch sind, hält sich hartnäckig. Neuere Studien zeigen aber, dass sich Einzelkinder nicht signifikant von Geschwisterkindern in Bezug auf Egoismus und Einzelgängertum unterscheiden. Interessanterweise können Einzelkinder sogar kontaktfreudiger sein, da sie sich aktiv um Freundschaften bemühen müssen, anstatt sich auf ein Geschwisterkind zu verlassen. Eine Studie aus dem Jahr 2019 mit 13.000 Schüler*inen ergab, dass Einzelkinder ebenso häufig als gute Freunde bezeichnet wurden wie Kinder mit Geschwistern.
Die Sorge um das psychische Wohlbefinden von Einzelkindern ist ebenfalls weit verbreitet. Die Forschung zeigt jedoch, dass Einzelkinder weniger psychische Probleme haben als Geschwisterkinder. Eine Studie mit mehr als 9.400 Schüler*innen in China und 9.100 Schüler*innen in den USA ergab, dass Kinder mit Geschwistern eher an psychischen Problemen wie Depressionen und Angststörungen leiden. Dabei spielten sowohl die Anzahl der Geschwister als auch der Altersunterschied eine wichtige Rolle. Je geringer der Altersunterschied, desto häufiger leiden Kinder in Großfamilien unter psychischen Störungen.
Einzelkinder erbringen in der Schule bessere Leistungen
In schulischer Hinsicht schneiden Einzelkinder tendenziell besser ab, was zum Teil auf die hohen Erwartungen der Eltern zurückzuführen sein könnte. Darüber hinaus sind Einzelkinder oft kreativer, wie eine Studie aus dem Jahr 2017 mit rund 300 jungen Erwachsenen in China zeigt. Ihr Einfallsreichtum zeigte sich, als sie nach alternativen Verwendungsmöglichkeiten für Alltagsgegenstände gefragt wurden. Ein Kind, das sich viel selbst beschäftigen muss, kann mehr Kreativität entwickeln.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Einzelkinder von einer engen Beziehung zu ihren Eltern und einer stärkeren individuellen Förderung profitieren, während sie manchmal die Erfahrung von Geschwistern und deren sozialen Interaktionen vermissen. Ein ganzheitlicher Blick auf die Entwicklung von Einzelkindern zeigt, dass sie in vielen Aspekten nicht weniger erfolgreich oder glücklich sind als Kinder mit Geschwistern.
Elisabeth Peham
Quelle:
Lukassen-Held, Daniela. So sind Einzelkinder (nicht). Gehirn&Geist Nr. 01/2025, S. 20 – 25.