Eine meiner Töchter war während ihres gesamten Schullebens und ihres Studiums praktisch ausschließlich 1er-Schülerin, 1,0 Matura, ihr Studium in den USA ausschließlich mit A+ oder A-Grades absolviert. Doch dann – ooops! – fand sie heraus, dass jene ominöse „Wirklichkeit“, auf die sie in der Schule angeblich vorbereitet hätte werden sollen, gar nicht den Systemkriterien der Realität entsprach. Diesen schulischen Systemkriterien – schön brav vorgesetzten Zwangs-Stoff reinpressen und gegen den Tauschwert „Note“ wieder rauswürgen – hatte sie perfekt entsprochen, aber jetzt stand sie plötzlich vor völlig anderen Fragen und Anforderungen, auf die sie einfach nicht vorbereitet war, jedenfalls nicht von der Schule. „KEIN (potenzieller) Arbeitgeber hat mich bisher nach meinen Matura-Noten gefragt, die wollten immer nur wissen, welche Berufserfahrungen ich mitbringe.“
Ihr wollt die Kinder auf „das Leben“ vorbereiten? Dann bringt ihnen grundlegende handwerkliche Fähigkeiten bei (man kann nämlich Dinge tatsächlich selber machen oder auch mal reparieren, ihr glaubt es kaum, das geht)! Lehrt sie, wie man einen Versicherungsabschluss macht und worauf man dabei achten muss! Lehrt sie, was ein Miet-, ein Leasing-, ein Kaufvertrag ist und worauf man dabei achten muss! Lehrt sie, wie man eine Bewerbung schreibt, eine Reklamation, einen Leserbrief, eine Petition. Lehrt sie, wie man einen kaputten Fahrradschlauch repariert! Lehrt sie, dass und inwiefern ihr Konsumverhalten mit Ereignissen in anderen Teilen der Welt in Zusammenhang steht und wieso sich das in ihrer eigenen Zukunft negativ für sie selber auswirken kann (nein: wird!). Dass die Wahnvorstellung vom „immerwährenden Wachstum“ eben das ist – ein Wahn. Dass die „Zuvielisation“ kein Zukunftsmodell ist, sondern ein selbstzerstörerisches Himmelfahrtskommando. Und macht ihnen bewusst, was das alles mit (angeblich) unveräußerlichen Kinder- und Menschenrechten zu tun hat.
Ihr wollt die Kinder auf „das Leben“ vorbereiten? Dann lehrt sie kochen! Lehrt sie Lebensmittelkunde! Lehrt sie grundlegende landwirtschaftliche Kompetenzen, und wenn es nur das Kräuterbeet und der Topf mit Tomatenpflanzen auf der Terrasse ist. Informiert sie über die Möglichkeiten von Gemeinschaftsgärten, über „community shared agriculture“, über „food sharing“ und die Möglichkeit, selber „food saver“ zu werden, über die vielen regionalen Initiativen rund um das Thema Ernährung, die es ja gibt, über Regional- und Bauernmärkte und wie man sich da auch mit vergleichsweise schmalem Budget gezielt, bewusst und zu erschwinglichen Preisen mit hochwertigen Lebensmitteln versorgen kann. Warum? Weil Ernährung nun einmal fundamental ist, die Basis, ohne die gar nichts geht. Wie hieß das doch bei Feuerbach: „damit muß man anfangen zu denken, womit man anfängt zu existieren. […] Der Anfang der Existenz ist aber die Ernährung, die Nahrung also der Anfang der Weisheit. Die erste Bedingung, dass du etwas in dein Herz und deinen Kopf bringst, ist, dass du etwas in deinen Magen bringst.“ Mahlzeit!
Und besonders wichtig: Lasst ihre Kreativität zu! Einfach zulassen, da muss man nichts „fördern“. Lasst sie SPINNEN! Lasst ihnen ihre Eigen-Art, so anstrengend die auch bisweilen sein mag! Gebt ihnen Raum, Zeit und Muße dafür (Moment: Kommt nicht unser Begriff „Schule“ ursprünglich vom altgriechischen „scholae“ = „Muße“?) Lebt ihnen Verantwortung vor, Hilfsbereitschaft, Solidarität, Empathiefähigkeit, Teamfähigkeit, praktische und originelle Lösungskompetenzen (gerne auch schräg und schrill)! Lebt ihnen Respekt, Rücksichtnahme, ehrliche Wertschätzung und Freundlichkeit vor! Und dressiert sie nicht stupide auf Vergleichswettkämpfe – wo es gar nichts zu vergleichen gibt! Ein Kind, das „schwach“ in Mathematik ist und sich im Rahmen seiner Möglichkeiten für die Schularbeit SEHR angestrengt hat, hat allemal mehr geleistet als das Mathe-Genie, dem das mit dem Zahlen-Zeugs „von selbst“ zufliegt. Das wäre mal ein anderer Zugang zum Begriff „Leistungsgerechtigkeit“. Und mit hoher Wahrscheinlichkeit hat das „lernschwache“ (vulgo: „nicht systemkonforme“) Kind anderswo Stärken, die nur im dämlichen, anachronistischen System nicht relevant sind, nicht wahrgenommen werden.
Lasst sie allerspätestens in der Pubertät Erfahrungen in lebenspraktischen Projekten machen. Ob sie einen Bauernhof sanieren, in einer (Bio-)Landwirtschaft mitarbeiten, in sozialen Einrichtungen, in Alten- und Pflegeheimen, in kulturellen Projekten, künstlerischen, politischen, zivilgesellschaftlichen, technischen ... Gebt ihnen die Chance, sich BEWÄHREN zu können! Lasst sie entsprechend ihren Begabungen, Interessen, Talenten und Träumen irgendwas tun, alles – bloß RAUS aus dieser entwürdigenden, demütigenden, erniedrigenden Beschulungs-Schule, diesem unsäglichen VERbildungssystem!
Und bitte verschont sie mit Infinitesimalgleichungen (schreibt man das so?) und Periodentafeln und französischer oder lateinischer oder chinesischer oder auch deutscher Grammatik, wenn es für sie nur Quälerei ist. Lehrt sie Rhetorik, lehrt sie argumentieren, lehrt sie hinterfragen, kritisch reflektieren, ermutigt sie, stärkt ihr (kritisches) Selbstbewusstsein, ihr soziales Bewusstsein, ihre Selbstaufmerksamkeit – lehrt sie philosophieren! Und – selbstverständlich –: Lasst sie Infinitesimalgleichungen lösen, in Fremdsprachen eintauchen, in Chemie und Physik, in IT und KI, in die tiefsten Tiefen jeglicher Kaninchenbauten, whatever, nach Lust und Laune, wenn sie nur Freude daran haben. Aber zwingt sie nicht, nötigt sie nicht und erspart ihnen diese lähmende Angst, die Triebfeder des ganzen unzeitgemäßen Systems ist und jeglichen „Geist“ zerstört.
Es geht um PERSÖNLICHKEITSbildung, nicht um Stoffstopfgänsepädagogik!
Prof. Dr. habil. Thomas Mohrs / Pädagogische Hochschule Oberösterreich